Vielleicht gibt es einen Grund dafür, wie die Dinge sind. Keiner, dem ich je begegnet bin, konnte mir einen nennen, aber ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass es doch einen gibt. Es macht das Leben leichter, wenn man weiß, dass man beim Tod ankommt, egal was man vorher getan oder gelassen hat. Dies ist die Geschichte von der Suche nach irgendwas, das ich noch nicht kannte. Ich habe es gefunden, glaube ich, aber sein Name ist ein Geheimnis. Die Geschichte beginnt in Randstadt und dort hört sie auch auf, aber es wäre zu viel verraten, wenn ich das nun begründen würde.
Als ich nach Randstadt kam, war die Welt schon verloren. Das wusste ich sicher und alle anderen wussten das auch, aber sie wollten es nicht wahr haben, oder es war nichts worüber sie reden wollten, denn alle sagten nur, ich solle still sein. Ich war still. Schließlich war ich fremd in der Stadt und ich wollte niemandem zu nahe treten. Aber es wunderte mich schon. Man sagte über Randstadt, die Welt sei dort noch ein bisschen anders als sonst überall. Das stimmte. Es regnete dort sehr oft und die Sonne schien nie. Wirklich nie. Man meinte am Anfang, es sei traurig, aber man gewöhnte schnell daran. Die Häuser in Randstadt waren alle gleich, weiß, aber bald schmutzig und grau, wie der Himmel. Manchmal war der Himmel fast blau, dann schimmerten auch die Häuser in diesem blau, aber die Sonne war stets durch Wolken verdeckt.
Schon am ersten Tag, als ich dorthin kam, über eine kleine Brücke, die die alten Leute „Sirlam jogpar“ nannten, was in der alten Sprache von Randstadt Buntes Licht heißt, traf ich Josephine. Ich fragte sie, warum alles weiß und grau war, und selbst die Blüten der Blumen und das Gras und die Bäume nur weiß waren. Sie lachte nur und meinte, ich würde es schon noch herausfinden, wenn ich länger da war. Gleich danach fragte ich sie, ob denn bald die Sonne scheinen würde. Sie schaute mich verlegen an und fragte: „Bist du enttäuscht?“, nachdem sie mir erzählt hatte, dass die Sonne schon seit 11 Jahren nicht mehr geschienen hatte, aber ich verneinte, ohne zu lügen. Die Welt war anders in Randstadt, aber warum sollte ich das gleich schlecht finden? Ich hatte keine Erwartungen gehabt, also konnte ich nicht enttäuscht werden. Das Leben war einfach genug, wenn man es sich so machte. Als ich sie aber nach dem Grund dafür fragte, schwieg sie nur und schaute auf den Boden.
Nach einer Weile fing sie wieder an zu lächeln. „Du bist auf der Suche nach dem Grund, nicht wahr?“ Ich hielt den Kopf verlegen etwas zur Seite. „Ich weiß nicht, nach was ich suche“, gab ich zu. „Du wirst ihn finden“, sagte sie, „und alles andere auch“, und lief, ohne sich noch einmal umzuschauen, durch den Regen davon.
Nach einer Weile fing sie wieder an zu lächeln. „Du bist auf der Suche nach dem Grund, nicht wahr?“ Ich hielt den Kopf verlegen etwas zur Seite. „Ich weiß nicht, nach was ich suche“, gab ich zu. „Du wirst ihn finden“, sagte sie, „und alles andere auch“, und lief, ohne sich noch einmal umzuschauen, durch den Regen davon.
Ob ich ihr glauben sollte, oder nicht, konnte ich nicht entscheiden. Es hing davon ab, nach was ich suchen wollte und solange ich das nicht wusste, konnte ich es nicht abschätzen.
Ich fand mir ein kleines Zimmer, weiß natürlich, in einem weißen Haus. Ein Bett stand darin und eine kleine Kommode, sowie ein Schreibtisch mit Stuhl und ein Klavier. Das Klavier, so sagte man mir, sei keine Besonderheit, sondern finde sich in der Mehrzahl der Zimmer, zum Teil auch durch eine Gitarre ersetzt, damit jeder Besucher die Melodie der Stadt erlernen und erleben könne, sodass er sich schneller sicher und geborgen fühlen könne, was, angesichts der Andersartigkeit der Stadt, den meisten Besuchern etwas schwer falle. Mir schien die alles nichts auszumachen, aber die Melodie erlernte ich trotzdem.
Es war eine einfache Melodie, so leicht und natürlich und gewaltig zugleich, wie ein Wasserfall. Nichts Besonderes, nur ein paar tausend millionen Wassertropfen die tosend einen Abgrund herunterstürzen, nur ein paar Töne, ein sanfter Rhythmus, frei, unbemalt wie die weißen Wände, frei, ohne Vorgaben und falsche Versprechen darüber, was hinter der Brücke auf jeden einzelnen Tropfen wartet.
Das war auch der Grund, warum man die Bewohner von Randstadt nicht verstand, wenn man nicht dort wohnte. Es fehlte der Platz zum Denken, an den die Menschen dort gewöhnt waren. Aber Platz zum Handeln gab es in Randstadt nicht, denn es hätte das Denken gestört. Was ist nun besser? Ich weiß es nicht. Aber Herzstadt wäre nicht so schön, würde es Randstadt nicht geben.
Was ist inspirierender als ein weißes Blatt? Es ist frustrierend, sagt nur der, der die Schönheit der Freiheit nicht kennt, der alles, was da ist, nicht kopieren will. Aber wenn es nichts gibt, außer weißer Wände und einer einzigen Melodie, wenn man nichts kennt, ist man frei. Wie sollten auch die Menschen in Herzstadt je an etwas denken, dass es noch nicht gab? Wie sollten sie Wände bemalen, die bunt waren? Sollten sie Bücher schreiben, die schon tausendmal beschrieben worden waren? Sollten sie Lieder schreiben, die jedes Kind singen konnte? Deshalb war Randstadt so anders. Und deshalb brauchte ich es. Was hätte ich sonst schreiben sollen?
Vielleicht hatte ich Randstadt gesucht. Nun, ich hatte es gefunden. Aber ich war nicht zufrieden damit. Vielleicht, dachte ich, war Randstadt auch nur deshalb nicht das, was ich gesucht hatte, weil die Sonne nicht schien. Den Grund hatte mir Josephine ja nicht verraten, aber ich fragte meine Vermieterin. Sie schaute mich traurig an, was mich zu der Annahme verleiten ließ, dass ihr das ständig schlechte Wetter doch ein wenig zu schaffen machte, aber ich wagte nicht, sie auch danach zu fragen. Schließlich schickte sie mich zu Emil.
Emil war ein Priester, wenn man ihn so nennen wollte. Ob er an eine übergeordnete Macht, die die meisten Menschen wohl als Gott bezeichnen würden, glaubte oder nicht, kann ich nicht sagen. Aber er kümmerte sich um Menschen, denen es schlecht ging und erzählte weise Geschichten, die er in einem Buch fand, das ihm Hoffnung gab, so sagte er. Daraus seien auch die Geschichten, die er den traurigen Menschen erzählte, damit sie auch wieder hoffen könnten.
Ich fand Emil im Großen Tempel. Er kam auf mich zu gelaufen, als ich in die Heilige Halle trat, als hätte er mich erwartet, obwohl ich ihn weder gekannt, noch mich ihm angemeldet hatte. Ich nahm es so hin, ohne mir darüber Gedanken zu machen.
„Es ist eine lange Geschichte“, sagte er sofort, lächelte über das ganze Gesicht. Er zog sanft die weißen, buschigen Augenbrauen nach oben, als wollte er fragen, ob ich denn auch so viel Zeit hatte, während er mit der rechten Hand in Richtung Tür deutete. Ich nickte und ging vor ihm nach draußen in den Innenhof. Er war nicht sehr groß, quadratisch, mit vier weißen Rasenfeldern, die jeweils von weißen Freesien umrahmt waren. In der Mitte des Hofes standen ein runder Tisch und zwei kleine Stühle, auf die Emil zu ging. Er bat mir den rechten der beiden Stühle an, wartete damit, sich zu setzten, bis ich mich bequem zurückgelehnt hatte. Kaum, dass er saß, fing er an zu erzählen. Mir war es zunächst etwas unangenehm in der Mitte des Platzes zu sitzen, aber als ich mich umsah, sagte Emil: „Sei beruhigt. Hier kommt niemand her, den nicht ich herbringe. Alle anderen finden dir Tür nicht“.
„Die Geschichte ist lang, wie ich bereits sagte...“ So fing er an. Die Geschichte war wirklich lang, sogar so lang, dass er den ganzen Tag erzählte bis spät in die Nacht hinein und ich am nächsten Morgen in aller früh wieder in den Tempel kam, weil sie noch nicht fertig war. Es ist nicht notwendig, dass ihr alles wisst, was geschehen ist, also will ich es euch kurz erzählen. Zumindest das, was wichtig ist.
Früher war es auch nicht normal, dass die Sonne scheint, aber in Herzstadt schien sie immer. Es gab einen jungen Mann, dessen Namen vergessen wurde, weil ihn jeder nur noch Dieb nannte. Der Dieb klaute die Sonne aus Herzstadt und brachte sie nach Randstadt, sodass immerhin einmal in der Woche die Sonne schien und es in Herzstadt regnete. Das war auch gut so, denn die Pflanzen in Randstadt brauchten Sonne und die Pflanzen in Herzstadt brauchten Regen. Als aber vor 11 Jahren ein neuer König an die Macht kam, änderten sich die Dinge. Da das Gesetz sagte, Stehlen sei verboten, ließ er den Sonnendieb festnehmen und seitdem regnet es in Herzstadt nicht mehr und die Pflanzen sind verdorrt, aber es scheint den König nicht zu stören. Emil hat alles nicht so schwer erzählt, wie es vielleicht war. Am Schluss fragte ich ihn, ob er es nicht schlecht fände und sich dagegen wehren sollte, aber er meinte, es sei doch alles eigentlich ziemlich in Ordnung. Dann lachte er. Und er zeigte mir das Buch, das er immer las.
Er lieh es mir. Natürlich las ich es, aber ich konnte es nicht als das Beste der Besten ansehen, denn es malte die weißen Wände in der einen oder anderen Farbe und ich brauchte den Platz zum Denken. Deshalb gab ich es ihm mit tausend Dank zurück und beschloss, das Gefängnis zu besuchen und den Sonnendieb zu finden.
Ich fand ihn. Ein armer, unscheinbarer Mensch, traurig, deprimiert. Als würde der Regen jede seiner Tränen in die Stadt bringen. Seine Zelle war nicht mehr weiß. Er hatte sie angemalt, so wie die Häuser in Herzstadt waren. Er war dort zu oft gewesen, sagte er. Und er hatte keine Träume mehr. Seinen Namen hatte er vergessen bei all dem, was er gesehen hatte. Er war es ja nicht gewöhnt gewesen. Und er regte sich über alles auf.
Am meisten über die Lügen. Er sagte, man könne alles wissen und über alles nachdenken, wenn man nur nichts sagte, was wahr sei. Als ich ihn nach einem Beispiel fragte, sagte er nur, ich solle mich in seiner Zelle umschauen. Ich würde schon etwas finden. Aber ich habe nichts gesehen, was ich verstand.
Ich glaube, was er meinte, war etwa so, dass man nicht sagen dürfe, dass jemand anders sei, auch wenn es offensichtlich sei, wenn dieser Jemand das nicht wollte. Aber das ist Unfug. Das weiß auch jeder. Dieser Jemand wahrscheinlich auch, aber ändern kann man es nicht und wahrscheinlich ist alles auch nicht so schlecht, wie manche sagen, so wie Emil behauptete und wie es in dem Buch stand. Das einzige was schlimm war, und da waren sich Emil und der Dieb einig, waren die Geldleute. Aber das war etwas ganz anderes.
Ich ging Emil wieder besuchen und er fragte mich, ob ich auf meiner Suche weiter gekommen wäre. Es wunderte mich, wie so oft bei Emil, woher er alles wusste, aber er wehrte sich natürlich dagegen: „Ich weiß wenig, kleines Mädchen. Aber genug um jeden zu verblüffen.“ Und dann lachte er. Leider war ich nicht weitergekommen. Traurig war ich deswegen aber nicht und ich hoffte weiter, dass ich es finden würde. Wie Josephine es getan hatte, so versprach auch Emil, dass ich es schon finden würde. Er grinste verschmitzt als er mich zur Tür hinaus begleitete, als wisse er, was ich suche, aber er wollte nichts verraten. Nur sagte er, ich solle einmal an den Fluss gehen.
Der Fluss floss aus den Bergen durch Randstadt hindurch nach Herzstadt. Es war der einzige Fluss, den ich in Randstadt kannte, also glaubte ich, es sei sicher auch der, zu dem ich hatte gehen sollen. Auch wenn der Berg steil war, schien der Fluss doch alle Zeit beim Fließen zu haben, als wollte er sich erst noch überlegen wohin er denn als nächstes fließen sollte, aber ab der Sirlam jogpar floss er blitzschnell und zielstrebig ins Tal und ins weite Meer. Ich setzte mich ans Ufer an einer ruhigen Stelle ein wenig außerhalb der Stadt, wo man, wenn man nach Osten schaute Randstadt und im Westen Herzstadt erkennen konnte. Aber der Fluss floss noch langsam, denn das Gebiet gehörte zum Rand.
Ich saß lange an der gleichen Stelle und schaute in das Wasser, ohne zu wissen, warum, nur deshalb, weil mich Emil hergeschickt hatte. Vielleicht war das ein ausreichender Grund. Ich wusste es nicht.
Ein Blatt Papier und einen Stift hatte ich mir mitgenommen, aber als ich dort saß und ins Wasser starrte fiel mir nichts und wieder nichts ein. Platz zum Denken, dachte ich, aber es war mehr als genug da! Was war denn nun das Problem in der Sache? Schreiben wollte ich. Vom Sinn. Vom Grund von allem.
Aber das einzige, an das ich dachte, war Emils Buch und die Zelle des Diebs und die Melodie.
Vielleicht war auch das schon zu viel gewesen. Randstadt war leer von Taten, voll von Gedanken, aber es hatte dieses Buch. Und es war das einzige was ich kannte. Ich hatte den Rest vergessen, als wäre nichts anderes je geschehen.
Ich starrte in das Wasser.
Nichts.
Nichts.
Nichts.
Nein. Da war etwas. Etwas, ich wusste nicht, was es war. Es schimmerte, glänzte. Ein Roter Schimmer in weißem Wasser. Rot? Das war Randstadt, das konnte nicht sein! Das war… die Idee.
Als ich zurückkam, war die Stadt bunt. Meine Gedanken hatten sie gemalt.
Ich lief zurück zum Gefängnis und gab dem Dieb die Schlüssel. Und er brachte die Sonne zurück in die Stadt. Aber ich musste sie verlassen, denn der Raum war aufgebraucht und die Schrift war geschrieben. Die rote Idee, die ich gesucht hatte. Ich hatte sie gefunden und aufgeschrieben.
Und als ich nach Weiterberg kam, war das Rot schon verloren. Und ich suchte nach dem Grund, warum alles so ist, wie es ist.
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